»Nie waren die Menschen so uninformiert«

Share

Gespräch mit Francisco Sierra Caballero. Über Medien in Gesellschaften mit einem Überfluss an Information, über Zensur im Zeitalter der »sozialen Medien«, über Manipulation und darüber, warum man Journalisten braucht, die eine klare politische Haltung zeigen.

Der Anschlag in Hanau vom 19. Februar hat eine Debatte darüber ausgelöst, wie die Medien den Täter darstellen. Denn der Mörder war ein Faschist, aber offensichtlich auch ein psychisch kranker Mensch. Welchen Einfluss haben die Medien auf die Realität, die sie beschreiben?

Wie bei jedem anderen dialektischen und widersprüchlichen Prozess wäre vielmehr die Frage zu stellen, welche Rolle die Kommunikation angesichts solcher Situationen generell spielt. In Krisenphasen, wie wir sie jetzt erleben, können Ängste ausgelöst werden. Das betrifft die Berichterstattung über den Aufstieg des Faschismus in Europa, über Sicherheits- und Präventionspolitik, über Attentate und Naturkatastrophen oder die Zukunft des Euro. Da wird ein regelrechter Angstdiskurs geschaffen. In der Folge gibt es nur verhaltene Proteste oder andere Mobilisierungen im öffentlichen Raum. Für die permanente Rede von Krise und Katastrophe, die der regelnden Hand bedürften, wirken die Medien als Lautsprecher.

Wird dieser Effekt dadurch verstärkt, dass in den »Social Media« der Journalist als Vermittler fehlt?

Sicher, wir haben es hier mit einem nicht zentralisierten System zu tun, das die Streuung aller möglichen Gerüchte ermöglicht. Die Verbreitung der manipulativen Desinformation erfolgt auf vertikale und wenig transparente Weise, das hat zunächst mit einem fehlenden Vermittler nicht viel zu tun. Im übrigen gibt es das nicht erst seit dem Aufkommen der »sozialen Medien«. Das gab es auch schon früher. Man beginnt nach alternativen Quellen zu suchen, anderen Erzählungen und Erklärungen Glauben zu schenken, weil man den Verdacht hat, dass die Darstellung in den traditionellen Medien verfälscht ist. Das Vertrauen in das politische System oder die institutionellen Medien schwindet. So etwas passiert häufig in Krisenzeiten.

Welche Rolle spielen diese »sozialen Netzwerke« beim Aufstieg der Rechten, die Journalisten hassen und von »Lügenpresse« sprechen?

Reden wir von dem, was gemeinhin als »Populismus« bezeichnet wird: Man versucht den Vermittler aus dem Weg zu räumen, seien es Journalisten oder die Institutionen des Staates bzw. der repräsentativen formalen Demokratie. Der Populismus, sei er rechts oder links, sucht das direkte Gespräch mit der Bevölkerung. Die Kritik an den Journalisten ist dabei sehr verbreitet. In Spanien etwa gehören Journalismus und professionelle Politik laut Umfragen des staatlichen Statistikinstituts INE zu den Berufen, die das schlechteste Image haben. Die Popularität von US-Präsident Trump rührt nicht zuletzt daher, dass erhebliche Teile der US-Bevölkerung – wie in Spanien – den Medien ablehnend gegenüberstehen, was allerdings auch nicht sehr verwunderlich ist, so wie die gegenwärtig berichten. Trump und andere Populisten erwecken vor diesem Hintergrund mit verrückten und irrationalen Aussagen mehr Vertrauen als Journalisten und Repräsentanten des Staates. Das Paradoxe daran ist, dass die Medien im Zuge solcher Entwicklungen und mit dem Auftritt solcher Figuren wieder Interesse wecken.

Sie sind Vorsitzender der »Unión Latina de Economía Política de la Información, la Comunicación y la Cultura«, ULEPICC, eines internationalen Zusammenschlusses kritischer Wissenschaftler, und haben eine besondere Verbindung zu Mexiko. Warum berichten die Medien kaum etwas über dieses Land?

Es gab schon immer eine Art Geopolitik der Kommunikation. Die Berichterstattung erfolgt asymmetrisch, viele Themen werden erst gar nicht behandelt. Mexikos Regierung unter Präsident López Obrador ist da ein Beispiel. Aber man könnte auch die politischen Morde in Kolumbien nennen, die jeden zweiten Tag stattfinden, auch darüber wird nicht informiert. In spanischen Medien wiederum ist Venezuela allgegenwärtig. Dabei werden allerdings wichtige Themen wie etwa die sozialen Errungenschaften dort, aber auch in Ländern wie Ecuador, Uruguay oder Argentinien in der vergangenen Dekade schlichtweg ausgespart. Die Angelegenheit müsste auch aus Sicht der politischen Ökonomie betrachtet werden, um festzustellen, wie sich international die Gewichte verschoben haben. Von den Universitäten kommt da wenig. Und nur die ganz großen Medienhäuser haben inzwischen noch Korrespondenten in Lateinamerika, die meisten kommen aus den USA. Das wiederum erklärt die Gründung von Sendern wie Telesur in Venezuela oder weiteren internationalen Sendern, die andere Schwerpunkte setzen.

Wie haben die verschiedenen politischen und juristischen Manöver gegen progressive Regierungen in Lateinamerika die dortige öffentliche Meinung beeinflusst?

Wir kennen das aus der Doktrin des »Konflikts niedriger Intensität« in Nicaragua. Es handelt sich dabei um einen psychologischen Krieg. Im »Santa-Fe-Dokument« der CIA wurde das Szenario eines schmutzigen Krieges gegen die legitime Regierung der Sandinisten skizziert. Eine progressive Partei kann die Regierung eines Landes stellen, aber wenn der reaktionäre Gegner Medien, Armee und Justizapparat kontrolliert, hält er weiterhin die Fäden der Macht in der Hand und bestimmt die öffentliche Meinung. Damit wird garantiert, dass die strategischen Interessen transnationaler Unternehmen nicht tangiert werden. Die Ausnutzung der juristischen Macht ist Teil dieser Strategie des niederschwelligen Krieges, nicht zuletzt, weil die Richter der betreffenden Länder oftmals in den Vereinigten Staaten ausgebildet worden sind.

In Katalonien behaupten die Parteien, die für eine Unabhängigkeit einstehen, dass auch gegen sie eine vergleichbare schmutzige Kampagne läuft. Wie bewerten Sie die Rolle der Medien im Konflikt um Katalonien?

Die Rolle der Medien war entscheidend, weil dort eine Vorverurteilung stattgefunden hatte, bevor der Prozess gegen die katalanischen Regionalpolitiker auch nur begann. Die Medienmacht konzentriert sich auf wenige Eigentümer. Damit war die Möglichkeit einer ausgewogenen Berichterstattung von Anfang an ausgeschlossen. Es gab nur wenige Ausnahmen, kleine Medien wie etwa Publico, die eine gute Arbeit gemacht haben. Der Richterberuf wiederum war lange oder ist womöglich noch immer von der Franco-Diktatur geprägt, eine Erneuerung des Justizapparats ist nach deren Ende nicht erfolgt, nur wenige Privilegierte, im Grunde eine Oligarchie, können sich diesen langen Karriereweg leisten. Etliche von ihnen vertreten noch immer franquistische bzw. extrem rechte Auffassungen.

Im April erscheint unter dem Titel »Marxismo y comunicación« ihr neues Buch. Was kann die marxistische Theorie im Bereich der Kommunikationswissenschaften leisten?

Zur Kulturindustrie, zur Massen- und Konsumkultur gab es von seiten einer marxistischen Forschung anfangs nur relativ wenige Studien. In den 70er Jahren begann eine Untersuchung der politischen Ökonomie der Medien: Welche Eigentumsstrukturen bestehen, welche Konzentrationsprozesse finden statt, wie produziert und reproduziert sich die Kulturindustrie? In einer Kultur, in der die Medien immer mehr an Gewicht erlangen, muss diese Entwicklung theoretisch reflektiert werden. Aber aufgrund einer antimarxistischen Hegemonie an den Universitäten gibt es nur sehr wenige kritische Studien zu diesem Gegenstand. Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag zur marxistischen Theorie auf dem Gebiet der Kommunikation leisten, zeigen, welche dialektischen Werkzeuge uns zur Verfügung stehen, um Kommunikation zu denken. Marx selbst hat keine Kommunikationstheorie erarbeitet, aber er war, was oft vergessen wird, auch Journalist. Ein großer Teil seiner Analysen gründet auf seinen Berichten über ökonomisch krisenhafte oder revolutionäre Situationen. Man kann seine Gedanken ohne seine Chroniken nicht verstehen. Es gibt bisher keine systematische Zusammenfassung der für eine kritische Medientheorie bzw. Kommunikationswissenschaft relevanten Beiträge marxistischer Theoretiker – angefangen bei Marx über die Frankfurter Schule, Gramsci oder auch Bertolt Brecht. Das soll im ersten Teil des Buchs geleistet werden. Im zweiten Teil geht es um die Frage, wie der Informationskapitalismus funktioniert. Auf Spanisch gibt es reichlich marxistische Literatur, aber auf dem Gebiet der Kommunikationswissenschaft eher wenig, und wenn dann konzentriert auf die Eigentumsverhältnisse in der Medienbranche.

Die Untersuchung der Effekte von Kommunikation erfolgt rational. Wie sieht das bei der Rezeption aus? Müssen da nicht auch irrationale Momente berücksichtigt werden?

Das ist eine zu bewältigende Aufgabe. Bei der Kritik an den herrschenden Medien müssen wir uns vergegenwärtigen, was der britische Historiker Edward Palmer Thomp­son (1924–1993, jW) in seiner radikalen Historiographie berücksichtigte: Es gibt so etwas wie eine moralische Ökonomie der Massen. Traditionell haben wir uns eher den Kontroll- und Manipulationsformen gewidmet sowie den Fragen nach Struktur und Eigentum der Medien. Kaum aber der Frage, auf welche Weise Menschen sich bestimmte Botschaften aneignen und verarbeiten und welche Schlüsse sie daraus ziehen. Wir müssen über die fast schon bequeme traditionelle marxistische Kritik des Staates hinausgehen und uns den sozialen Netzwerken zuwenden. Gramsci hat zu seiner Zeit etwas ähnliches gemacht.

Wikileaks ist vielleicht ein paradigmatisches Beispiel für das, worüber wir gerade sprechen. Aber wie viele Menschen in Europa wissen heute, was momentan mit Julian Assange passiert?

Das ist das Paradox der Informationsgesellschaft. Nie waren die Menschen so uninformiert wie heute. Damit droht den halbwegs demokratischen Verhältnissen eine nicht unerhebliche Gefahr. Ich engagiere mich zusammen mit den Anwälten von Julian Assange in einer Gruppe, die auf Veranstaltungen über seinen Fall informiert. Es ist ein Skandal, dass jemand wie Assange, der gravierende Menschenrechtsverletzungen aufdeckt, verfolgt, inhaftiert und gefoltert wird. Die Situation, in der Assange sich befindet, betrifft uns alle. Seine Verfolgung bedeutet eine Attacke auf die Meinungsfreiheit, auf das Recht auf Information und eine Verletzung fundamentaler Rechte. Von der Meinungs- und Informationsfreiheit hängen alle anderen Freiheiten ab. Ohne Information können wir keine weiteren Rechte fordern.

Auf Malta und in der Slowakei wurden 2017 bzw. 2018 zwei Journalisten ermordet. Waren das Einzelfälle, oder ist so etwas jetzt häufiger zu erwarten?

Wie bereits angedeutet: In Kolumbien und in Mexiko sind Journalistenmorde beinahe an der Tagesordnung, doch kaum ein Medium berichtet in Europa darüber. Nun sind Journalisten auch in der Türkei oder Ungarn gefährdet. Zu erinnern ist auch an den Fall José Couso Permuy, der spanische Kameramann, der 2003 von der US-Armee während des Irak-Krieges getötet wurde. Die USA haben wichtige internationale Verträge nicht unterzeichnet, die die Sicherheit von Journalisten und medizinischem Personal garantieren sollen. Den Boten der schlechten Nachricht aus dem Weg zu räumen ist gängige Praxis. In Europa geschieht das zumeist auf symbolische Art; und es ist auch nicht neu. Während des Nordirland-Konflikts ging die britische Premierministerin Margaret Thatcher gegen Journalisten juristisch vor. Auch investigativen Journalisten passiert das immer wieder.

Stellt der sogenannte Bürgerjournalismus eine Bedrohung für den Beruf des Journalisten dar, oder ist das nur ein vorübergehender Hype?

Da gibt es viele Missverständnisse. Die Anfänge dieser Form der Berichterstattung liegen im lateinamerikanischen »Volksjournalismus«, einem Konzept, über das ich immer wieder mit Kollegen aus Gewerkschaften oder Berufsverbänden diskutieren musste. Es ist ein Irrtum zu denken, dass Bürger, die Informationen produzieren, den Journalisten ersetzen könnten. In der Ära der sozialen Netzwerke muss man allerdings über eine Kooperation mit den Lesern nachdenken. Der Journalist hat nicht mehr den exklusiven Zugang zu Informationen. In Mexiko oder Argentinien hat man sogar die Arbeitsmethoden geändert und sich für den Dialog mit den Lesern geöffnet, um über relevante Themen zu berichten. Diese Kooperation trägt dazu bei, dass Themen tiefer und besser behandelt werden. Ein Beispiel dafür sind die »Voces ciudadanas« (deutsch: Bürgerstimmen; jW) in Kolumbien.

Ist das nicht zu viel Information? Sind die Gesellschaften nicht eigentlich übersättigt?

Ja, darüber wurde bereits in den 80er Jahren diskutiert. »Ökologie der Information« nennt sich eine Forschungslinie, die eine Übersättigung an Information theoretisch reflektiert. Diese Übersättigung führt nicht nur zu geringerer Aufmerksamkeit, sondern zu einer generellen Desorientierung ganzer Gesellschaften im ideologischen, kulturellen und moralischen Sinne. Die Flut an Informationen überwältigt die Menschen. Vicente Romano (1935–2014, jW) war einer der wenigen Marxisten in Spanien, der diese Idee einer Ökologie der Kommunikation aufgriff, verknüpft mit der Einsicht, dass die natürliche Zeit, die einem Menschen zur Verfügung steht, nicht unendlich ausdehnbar ist. Die Fähigkeit der Menschen, Informationen aufzunehmen, ist begrenzt. Das lässt sich bereits in Schulen und Kindergärten beobachten, wo schon Kinder mit Smartphones interagieren und hyperstimuliert sind, aber auch bei erwachsenen Menschen, deren Fähigkeit für abstraktes Denken verschwindet und bei denen die invasive Kolonisierung ihres Geistes und ihrer Fähigkeiten unaufhaltsam voranschreitet.

Die sogenannten Qualitätsmedien berufen sich auf ihre angebliche Neutralität. In Berufsverbänden oder in Universitäten werden dagegen Medien, die eine erkennbar parteiische Haltung einnehmen, wie die junge Welt beispielsweise, als »aktivistisch« verächtlich gemacht. Warum?

Eine solche Anschauung ist positivistisch und aus meiner Sicht obsolet. Die ideologische Presse wird als ein Relikt des 19. Jahrhunderts betrachtet. Im 20. Jahrhundert setzte sich, ausgehend von der angloamerikanischen Presse, der Gedanke durch, dass Jour

nalisten nicht Mitglied in Parteien sein könnten, dass Medien unabhängig sein müssen. Ab den 1960er Jahren beobachten wir aber das genaue Gegenteil. In Spanien zum Beispiel erhalten die Medien eine institutionelle Finanzierung von den Parteien des bisherigen Zweiparteiensystems. Das sind die sogenannten Reptilienfonds. Doch die Idee einer angeblichen Objektivität wird in den Universitätsfakultäten weiter verbreitet und übersetzt sich in eine dramatische Entpolitisierung der Information. Es sollte dazu gehören, dass sich die Medienprofis am öffentlichen Leben beteiligen. Der argentinische Journalist Rodolfo Walsh (1927–1977, jW) setzte sich für einen »militanten Journalismus« ein und verteidigte die Revolution in Kuba. Die Fakultät für Journalismus und soziale Kommunikation an der Universität von La Plata ist eine Ausnahme, beruft sich auf Walsh und bildet Journalisten in dieser Tradition aus.